Das Leben ist manchmal schwer, weil wir es uns schwer machen und so ist es auch mit dem Erkennen, wer wir im Seelengrund sind. Wir behindern uns selbst auf vielerlei Weise. Deshalb ist es nötig, sich am Anfang zu 100 Prozent zu bemühen. "So lange, bis du dich nicht mehr nicht bemühen kannst" (Ramana Maharshi).
Aufwachen - gibt es das?
Vielleicht stellen wir uns vor, dass es kompliziert und schwer sein muss, die eigene wahre Natur zu verwirklichen, sich selbst als prickelnde Lebendigkeit und leeres, liebevolles Bewusstsein zu erkennen. Schließlich sind uns nur wenige "Heilige" bekannt, die Erleuchtung erfahren haben - wie Jesus, Buddha, Rumi oder Ramana Maharshi. Das mag auf den ersten Blick so erscheinen, genaueres Nachforschen zeigt aber, dass es immer wieder Menschen gab und gibt, die aufwachen (besonders im Mittelalter, zur Zeit von Meister Eckhart und Johannes Tauler, gab es viel mehr Erleuchtete als heute - sogar einen erleuchteten Papst, Gregor den Großen). Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, dass Aufwachen kein Hirngespinst, sondern für jeden möglich ist, dass es die Erfüllung des menschlichen Potentials und die Vollendung unserer Lebensaufgabe darstellt. Die Inschrift beim Orakel von Delphi "Mensch, erkenne dich selbst / Erkenne, was du bist" weist deutlich darauf hin.
Die tausend Techniken
Durch die Reizüberflutung, das Tempo und das endlose Tun heutzutage wird es immer schwieriger, den inneren Ruf zu hören und die Sehnsucht nach der Rückkehr zur Quelle zu fühlen. Man könnte sagen, die Menschheit schläft immer tiefer und fester. Das Aufwachen wird dadurch zu einer Seltenheit - aber nicht, weil es schwerer geworden ist, sondern weil wir Menschen uns immer mehr davon entfernen und immer verstrickter sind in weltliche Angelegenheiten. Ja, viele spüren eine Sehnsucht nach mehr Tiefe und werden dem oberflächlichen Treiben überdrüssig. Es gibt einen riesigen Markt an Kursen, Seminaren, Workshops, Büchern und Lehrern, die tausenderlei Techniken und Wahrheiten für die Suchenden verkaufen. Es dauert oft Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, bis man sich durchgeackert hat und am Ende dasteht und sagen kann: "Jetzt weiß ich, was mich alles NICHT zum Ziel bringt".
Das Erkennen Gottes in dir selbst
Das Ziel nach dem unsere Sehnsucht verlangt, das Aufwachen, ist die Erkenntnis, dass wir nicht getrennt sind, sondern eins mit Gott, dem Absoluten, der Unendlichkeit, der universellen Schöpferkraft und Seinsfreude. Aufwachen bedeutet nicht mehr und nicht weniger als im innersten, stillsten Winkel deiner Seele, im Seelengrund, zu erfahren, dass du eins bist mit dem Göttlichen, dass du stille, leere und gleichzeitig lebendige und prickelnde Bewusstheit bist. Es kann einen großen Durchbruch in die Freiheit geben oder einen langsameren, stetig fortschreitenden Prozess der Vertiefung ins aufgewachte Sein. Wer beim Lesen dieser Zeilen eine starke Resonanz ("ja, das stimmt, das fühlt sich so richtig an!") wahrnimmt und sich nicht jahrelang durch tausend Techniken wühlen will, den weise ich hin auf Christian Meyer und Adyashanti.
Leer und still werden
Der indische Weise Ramana Maharshi fasst seine Lehre in zwei Worten zusammen: "Sei still". Ohne weitere Erklärung kann das aber leicht missverstanden werden: als stillhalten, stillsitzen, nicht sprechen. Es bedeutet aber vielmehr ein vollständiges Verschwinden des individuellen Tuns und Wollens, ein Loslassen und Geschehen-lassen. Du trittst zurück, wirst still und lässt mit dir geschehen - da kann ein Wirbelsturm an Gefühlen und Bewegung durch dich fegen und du bist dabei still, d.h. du erfährst den Aufruhr ganz lebendig, aber ohne einzugreifen.
Unio mystica
Der bekannte mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart beschreibt die Einswerdung mit Gott mit klaren, einfachen Worten. Er spricht nicht von spektakulären seelischen Ereignissen. Seine Einheitserfahrung ist die „währende Seinsgegenwart Gottes am Grund der menschlichen Existenz“, also im Seelengrund. Um erkennen zu können, muss der innere Raum ledig sein von allem, leer werden - auch vom Gegenstand des Erkennens. Sehr deutlich wird das in der „Armutspredigt“ (Predigt 52), in der er die wahre Armut bestimmt: Nichts wollen, nichts wissen, nichts haben. Dann wird dir alles geschenkt.
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